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Bedauerliche Einengungen im großen Bogen

Rezension von Alfred Pfabigan zu

Christoph Gellner
Schriftsteller lesen die Bibel - Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts

Copyright by Alfred Pfabigan

Bert Brecht hat einmal einen Interviewer, der ihn nach seinem Lieblingsbuch fragte, mit der folgenden Antwort verblüfft: "Sie werden lachen, die Bibel". Brecht war ein kommunistischer Atheist, doch er steht nicht alleine: unzählige Menschen, denen die religiöse Bedeutung der Bibel gleichgültig war, haben sie als ein literarisches Meisterwerk gelesen. Selbst in dem jüngsten Versuch, die hundert bedeutendsten Autoren der Weltliteratur zu erfassen, in Harold Blooms "Genius", finden wir an prominenter Stelle die Jahwistin, jene Frau, von der Bloom meint, dass sie die später redigierten Teile der ersten Bücher Moses zwischen 950 und 900 v.d.Z. verfasst hat. Die Bibel ist also nicht nur als spirituelles Dokument und als Legitimation sozialer Ordnungssysteme einer der einflussreichsten Texte der Weltkultur, sie hat ihre Spuren in zahlreichen kreativen Bereichen hinterlassen: in der bildenden Kunst, in der Musik, ja sogar in der Sprache der Politik - und eben auch in der Literatur.

"Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts". Sowohl der Titel wie auch der Untertitel des Buches des Schweizer Theologen Christoph Gellner täuschen. Einerseits geht es ihm um mehr, als um das bloße Phänomen der Bibellektüre von Schriftstellern, andererseits behandelt er weitaus weniger als die globale Themenstellung nach der Rolle der Heiligen Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts - selbst wenn man das Projekt auf den Bereich der westlichen Kultur einengte, gäbe es dafür wohl unzählige Beispiele. Gellner hingegen hat sich darauf beschränkt, in einer unsystematischen Aufsatzsammlung den Spuren nachzugehen, welche die Beschäftigung mit der Bibel im Werk von 13 deutschsprachigen (wobei wir etwa Stefan Heym, der die meisten seiner Romane zunächst auf Englisch verfasste, als deutschsprachigen Autor bezeichnen) SchriftstellerInnen des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat. Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer, Grete Weil, Hilde Domin, Wolfgang Hildesheimer, Erich Fried, Heinrich Böll, Günter Grass, Günter Kunert, Christine Lavant, Ingeborg Bachmann, Anna Seghers und Stefan Heym - sie alle haben im "Buch der Bücher" Schlagworte, Lebensmaximen, Konstellationen, Botschaften oder Erzählungen gefunden, die sie in ihrem Werk aufgegriffen haben: so etwa die Schöpfung, das Paradies, den ersten Mord, den Exodus, die Botschaft des Gottessohnes und sein Martyrium, die Vertreibung der Juden aus Palästina. Auch haben sich manche von ihnen am sprachlichen Duktus der Lutherbibel inspiriert. Doch ansonsten ist es schwer, den Punkt (oder mehrere Punkte) zu finden, von dem aus diese Beschäftigungen mit von der Bibel vorgegebenen Themen untereinander vergleichbar wären. Die Autorinnen und Autoren stehen für sehr heterogene Positionen, manche von ihnen sind gläubig, andere ungläubig und auch ihr Platz im politischen Spektrum zwischen "links" und "rechts" ist äußerst unterschiedlich.

Die behandelten AutorInnen sind zwischen 1869 (Lasker-Schüler) und 1929 (Kunert) geboren; der Nationalsozialismus und der Rassenwahn intervenierten in ihrer Lebens- oder zumindest in ihrer Familiengeschichte. Wenn man den naheliegenden Versuch unternimmt, das von Gellner aufgebreitete Material zu ordnen, dann wird man zunächst auf die Frage der jüdischen Abstammung von neun der AutorInnen verwiesen. Viele der beschriebenen Auseinandersetzungen mit der Bibel bzw. das Aufgreifen und Fortführen biblischer Stoffe stehen in diesem Kontext, die Art des Zugangs ist allerdings von der jeweiligen individuellen Situation bestimmt und damit im Ergebnis äußerst pluralistisch. Nur einige Beispiele seien genannt: Es ist ein großer Unterschied zwischen einer Grete Weil, der erst der Antisemitismus ihr Judentum bewusst machte, und dem bewussten "Jüdisch-Sein" eines Wolfgang Hildesheimer, der aus einer alten Rabbinerfamilie stammt, und sich auch in der Bundesrepublik als Jude extrem unbehaglich fühlte. Es ist auch ein Unterschied zwischen einer assimilierten Jüdin wie Hilde Domin, der in ihrer Jugend die Bibel nur wenig bedeutete, und einem Erich Fried, der schon als Kind so in der Welt des Alten Testaments lebte, dass er den innerfamiliären Spitznamen Rabbi Zock trug und der 1938, nach der Ermordung des Vaters, mit einem englischen Wörterbuch, dem "Faust" und der Bibel nach England flüchtete. Manche der von Gellner behandelten SchriftstellerInnen "entdeckten" allmählich ihre jüdische Identität, manche setzten eine innerfamiliäre diskursive Tradition fort, manche waren Gegner der jüdischen Religion und benützten doch - wie Günther Kunert - das archetypische Material von Sündenfall, Brudermord, Sintflut und Apokalypse in ihrem Werk. Die der jüdischen Religion fernstehende Lasker-Schüler integrierte die Bilderwelt vor allem des Alten Testaments in ihre lyrischen Phantasien, Rose Ausländer - fest verankert im osteuropäischen Chassidismus - war um eine Synthese von dessen Ideen mit modernen sprachlichen Ausdrucksmitteln bemüht. Anna Seghers, die 1932 die jüdische Kultusgemeinde verlassen hat, aber stark unter dem Einfluss von Ernst Blochs kommunistisch-messianischem Denken stand, versuchte wiederum jüdisch-christliche Werte in ihre Version des Kommunismus zu integrieren. Grete Weil dementierte jedes jüdische Zusammengehörigkeitsgefühl und nützte die für sie wohl universell gültige Geschichte vom König David in dem Roman "Der Brautpreis" als Beleg für ihren Protest gegen eine schlecht eingerichtete Welt.

Mehrere der behandelten AutorInnen verwendeten biblisches Material als Vehikel für ihre Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Dabei griffen sie nicht nur auf die alttestamentarische Verfolgung durch die Ägypter zurück. Domin, Sachs, Celan und Fried benützten auch das Bild vom gekreuzigten Christus als Vergleichsfigur für das gequälte jüdische Volk. Eine eigenartige Rolle spielt Jesus in der "Blechtrommel" von Günther Grass: sein zwergenhafter Oskar Matzerath sieht sich in der Nachfolge Christi. Diese scheinbare Blasphemie würde - so Gellner unter Berufung auf die bekannten Aufsätze von Karl-Josef Kuschel und Hans-Gernot Jung - die Möglichkeiten einer Jesus-Nachfolge unter der Bedingung einer totalitären Diktatur und einer gleichgeschalteten Kirche diskutieren. Auch Heyms "König David Bericht" verwendet die biblische Geschichte für eine Persiflage auf das Verhältnis von Geist und Macht im Totalitarismus. Häufig - etwa bei Bachmann und Böll - stehen die Bibelbezüge im Dienst einer dezidierten Gesellschaftskritik, einer Kritik an der Kirche und den Nachwirkungen des Nationalsozialismus und Erich Fried hat biblisches Gedankengut als Begründung seiner umstrittenen Kritik an der israelischen Palästinenserpolitik benützt.

Gellner argumentiert in seinen Fallstudien komprimiert und dennoch komplex, wer an den behandelten SchriftstellerInnen interessiert ist, wird viel Neues finden. In seiner Gesamtheit ist der Band dennoch unbefriedigend - die Auswahl, die Gellner getroffen hat, ist unbegründet, und so liest sich das Buch wie einer jener zwingend inkohärenten Kongress-Berichte aus der Feder verschiedener AutorInnen, die untereinander keine Absprache getroffen haben. Wenn wir zum Titel zurückkehren, dann wird hier auf einer beschränkten Materialbasis eine These illustriert, die Northrop Frye im Titel einer Untersuchung über das Verhältnis zwischen Bibel und Weltliteratur gut formuliert hat: die Heilige Schrift stelle aller Säkularisierung zum Trotz immer noch einen "Great Code" der literarischen Imagination dar.

Alfred Pfabigan
16. November 2004

mit freundlicher Genehmigung des Literaturhaus Wien: www.literaturhaus.at