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Mose wird zum Befreier – wie er sich dabei selbst

verändert

Biblisches zur Spiritualität der Gerechtigkeit und der Befreiung

Von Norbert Lohfink

 

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Ignatius hat uns hin und wieder auch mithilfe von Begriffen philosophieren lassen, zum Beispiel am Anfang und am Ende der Exerzitien: im Fundament und in der Contemplatio über die Liebe. Aber dazwischen hat er uns in Geschehnisse hineingezogen: in die Ereignisse des Lebens Jesu. Und genau hier sollten unsere spirituellen Entscheidungen fallen. Sogar die Eckbetrachtungen dieses Bereichs hat er in Geschichten umgesetzt: die vom König und die von den zwei Bannern. Denn auch das sind Geschichten, in die man sich hineinbegeben muß. Es ist deshalb typisch für jede jesuitische Spiritualität, daß man sich in eine Geschichte hineinbegibt. Man wird zum Sozius Jesu und gerät in sein Drama hinein. So fällt es mir auch schwer, von der Bibel her etwas über die Spiritualität der Gerechtigkeit und der Befreiung dadurch zu sagen, daß ich Begriffe analysiere oder Theorien entwickle. Besser ist es, auch hier lassen wir uns in ein Drama hineinziehen. Auf dem Berg der Verklärung hat sich Jesu Geschichte mit der des Mose und des Elija verknotet. Während das helle Licht sie zusammenschmolz, sprachen sie über seinen Tod in Jerusalem. So möchte ich jetzt versuchen, uns in die Geschichte des einen dieser beiden Befreiergestalten des Alten Testaments hineinzunehmen: Moses, der Israel aus Ägypten geführt hat. Das Buch Exodus gehört nicht zu den altorientalischen Chroniken, die Tafel um Tafel nur nackte Fakten aneinanderreihen. Israel hat hier Bilder und Szenen zusammengestellt, in denen wir – neben vielem anderen – auch erleben, wie Mose, der Befreier, langsam und mühsam verwandelt wird. Das ist ein spirituelles Geschehen. Gehen wir einfach einige Stationen entlang.

1. Die Hebammen

Die Geschichte der Befreiung und so auch die des Befreiers beginnt schon vor dessen Geburt. Denn daß Mose in einem Binsenkörbchen im Nil ausgesetzt wird, hat eine Vorgeschichte. Die Hebräer werden nicht nur zu Fronsklaven gemacht und so systematisch ausgebeutet, sondern sollen auch keinen Nachwuchs mehr haben, zumindest keinen männlichen. Die hebräischen Hebammen bekommen die Anweisung, neugeborene Knäblein umzubringen. Sie tun es nicht, und zur Rede gestellt, erzählen sie dem Mörderkönig ein Ammenmärchen (Ex 1,15-21). Das ist die erste Weise, wie arme und ausgebeutete Leute sich zu helfen wissen. Sie machen einfach nicht mehr mit, und sie flunkern sich durch. Man kann das „passiven Widerstand“ nennen, wenn er auch noch nicht so durchorganisiert ist wie in manchen modernen Befreiungsbewegungen. Es ist eher die Schlitzohrigkeit des tapferen Soldaten Schweijk. Aber sie hilft nichts. Das haben die Israeliten also schon vor Moses Geburt gelernt. Der Pharao kommt dahinter, und er setzt nun nur noch Ägypter ein, um die neugeborenen Knäblein der Hebräer in den Nil zu werfen (Ex 1,22).

2. Im falschen Lager

Jetzt kommt eine Art Zaubergeschichte, wo alles auf dem Kopf steht. Eine Mutter will ihr schönes Kind nicht von diesen Ägyptern in den Nil werfen lassen, so wirft sie es selbst in den Nil – nur mit Liebe, in einem kleinen, ausgepolsterten Binsenkörbchen. Das Wunder, auf das sie insgeheim hofft, tritt ein. Die Prinzessin findet das Kleine, und die raffinierte Schwester erreicht sogar, daß die Mutter es weiter stillen kann. Erst dann entschwindet es im Palast, von der Königsfamilie adoptiert (Ex 2,1-10). So werden Befreier gemacht. Befreier sind nicht einfach irgendwelche Menschen von unten. Nein, sie müssen von oben kommen. Sie müssen die selbstverständliche Freiheit der Oberschicht verinnerlicht haben, um überhaupt zu wissen, was Freiheit ist. Sie müssen Kultur, Bildung und Technik beherrschen, was ihren Brüder unten ja vorenthalten ist und ohne das doch Befreiung nicht gelingen kann. Zugleich allerdings müssen sie den Stachel in ihrer Seele haben. Es muß in ihnen bohren, daß sie eigentlich nicht in den Palast gehören, sondern unten in die Hütten. Mose weiß das schon durch seinen Namen: Ich bin „aus dem Wasser gezogen worden“ (Ex 2,10). Es bohrt in ihm. Ohne diese Interpenetration der feindlichen Klassen, ohne den Wunderglauben der armen Frau und ohne das alles beiseiteschiebende menschliche Mitleid der Prinzessin könnte es nicht zur Formung des Befreiers kommen, der zu beiden Welten gehört. Ist es übrigens nicht interessant, daß wir hier, in den dumpfen Anfängen der späteren Befreiungsgeschichte, nur Frauenwelten und Frauengeschichten haben? Erst wenn Mose groß ist, wird es männlich. Da fließt dann Blut.

3. Terror und Gegenterror

Mose hält es nicht im Palast. Er sucht die Seinen. Ein Ägypter schlägt einen der Seinen. Da erschlägt er den Ägypter und verscharrt ihn im Sand (Ex 2,11-12). Befreiung durch Gegengewalt. So beginnt die Karriere vieler Befreier, und viele kommen nie über diese Phase hinaus. Nicht so Mose. Er macht eine häufige Terroristenerfahrung. Diejenigen, für die er Gewalt anwendet und sein Leben riskiert, wollen ihn gar nicht. Er hat vielleicht geträumt, er könne bei ihnen untertauchen wie der Fisch im Wasser, wenn man ihn sucht. Er kann es nicht. Für sie ist Gewalttätigkeit mit dem Bild der Unterdrückung verschmolzen. Will einer sie mit Gewalt befreien, dann kann er nach ihrer Erfahrung nur eine Absicht haben: Selbst ihr neuer Unterdrücker zu werden. Am nächsten Morgen, wenn Mose zwei streitende Hebräer versöhnen will, ist diese Furcht sofort da, und er bekommt es auf den Kopf zugesagt: „Wer hat dich zum Aufseher und Schiedsrichter über uns bestellt?“ (Ex 2,13-14). Terror befreit nicht, erhöht nur die Angst, daß alles noch viel komplizierter wird, und zwar vor allem bei den Unterdrückten selbst. Und die, die die Macht haben, haben auch die Mittel, den Terror niederzuschlagen. Mose hat das hier zu lernen. Was er getan hat, wird bekannt. Ihm bleibt nur die Flucht ins Ausland. Er kann auch nicht ausspielen, daß er zugleich zum Palast gehört. Das macht die Sache eher schlimmer.

4. Der Schläfer in Midian

Wenn man hier, am Ende von Exodus 2, weiterliest, vernimmt man plötzlich ganz neue Töne, etwas wie „Am Brunnen vor dem Tore“. Denn in der biblischen Literatur sind Geschichten, die am Brunnen vor dem Stadttor spielen, stets romantische Liebesgeschichten. Meist bahnt sich hier eine Ehe an. Das war die einzige Stelle, wo junge Männer und junge Frauen einander begegnen konnten. Da kommt auch aus Mose, dem Revolutionär, plötzlich der Mensch heraus. Er hilft galant der bedrängten Hirtin, so wie man es im Palaste lernt. Und so findet er seine Frau und eine neue Heimat (Ex 2,15-21). Wirklich? Man muß hebräische Erzählungen lesen können. Am Ende, ganz knapp, kommt in diesem Fall der Hammer. Mose gibt seinem Sohn den Namen „Gerschom“, das heißt „Fremder in der Wüste“ (Ex 2,22). Mose ist jetzt, was man heute einen „Schläfer“ nennt. Er lebt normal dahin im Exil, doch er wartet darauf, daß die Stunde kommt. Wie wenig ihm dann seine Familie bedeutet, erfahren wir später. Am Sinai reist ihm sein Schwiegervater nach und bringt ihm seine Frau und seine beiden Söhne zurück. Mose hatte sie nach Hause geschickt, als es mit dem Exodus richtig losging (Ex 18,1-7). Bei dieser Gelegenheit erfahren wir überhaupt erst, daß Mose noch einen zweiten Sohn hatte, Elieser (= „Gott ist Hilfe“), denn, so hatte Mose gesagt: „Der Gott meines Vaters hat mir zu Hilfe mich vor dem Schwert des Pharao gerettet“ (Ex 18,4). Erst wo Mose als „Schläfer“ lebt, fällt zum ersten Mal aus seinem Munde das Wort „Gott“. Und es ist „der Gott meines Vaters“, also kein ägyptischer Gott, sondern der Gott der Hebräer. Diese Zeit des „Schläfers“ in der Fremde ist unendlich wichtig. Es ist eine lange Zeit. Und in ihr wird Mose in seiner Tiefe zubereitet für das Ereignis am Gottesberg, das einen neuen Anfang setzen wird.

5. Ausgezogene Schuhe

Die Bibel schickt der langen Erzählung von der Erscheinung am brennenden Dornbusch Vorbemerkungen voraus. Sie sind wichtig, denn sie zeigen, daß es gar nicht auf Mose allein ankommt. Drei Dinge haben sich ereignet, die die Zeit des „Schläfers“ beenden. Einmal, daß es in Ägypten einen neuen König gibt: also eine Veränderung der äußeren Lage. Aber nicht das allein. Bei den Armen ändert sich etwas. Sie schreien aus ihrem Frondienst zum Himmel empor. Und dadurch ändert sich etwas bei Gott: Er gedenkt seiner Beziehung zu den Vätern Israels (Ex 2,22-25). Wir müssen wissen: Eine subjektive Spiritualität der Befreiung hilft gar nichts, wenn sie nicht eingeschmiegt ist in den rechten Augenblick. Dieser rechte Augenblick hängt nicht an uns. Er kommt von weither. Vor allem aber kommt er dadurch zustande, daß die Unterdrückten und Armen sich ihrer Situation bewußt werden und beginnen, zu Gott zu schreien. Dazu konnte Mose, der Befreier, selbst gar nichts beitragen. Er war fern im Exil. Dann kam die Gottesbegegnung über ihn. Allein aus ihrer Kraft hat er später gehandelt, und der Gottesberg, an dem sie sich ereignete, wurde für ihn wie für das Israel, das er in die Freiheit führte, die Mitte der Welt.

Zu der Theophanie am Gottesberg (Ex 3,1–4,17) wäre vieles zu sagen. Ich will, gerade unter dem Gesichtspunkt von Moses spiritueller Entwicklung, nur wenige Dinge herausgreifen. Das eine ist Gottes Zuruf am Anfang: „Komm nicht näher heran, streif deine Schuhe von den Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Grund“ (Ex 3,5). Die Schuhe sichern den Gang und schützen den Menschen in der Wildnis vor Steinen, Dornen und Schlangen. Der die Befreiung wirken soll, muß auf all dies verzichten. Es geht ins Ungesicherte. Das andere, das diese Kapitel prägt, ist Moses Widerstand gegen den Ruf. Ihm ist offenbar inzwischen auch jede Selbstsicherheit verlorengegangen. Mehr als den Pharao fürchtet er noch die Israeliten selbst, er traut ihnen nicht. Er will wissen, in wessen Namen er spricht, damit er sich bei ihnen ausweisen kann. Er will wissen, was er sagen soll. Auch Wunderzeichen, die er wirken kann, überzeugen ihn kaum. Die, die er befreien soll, sind seine Not. Aber natürlich auch sein eigentlicher Widerpart, der Pharao. Er sagt zu Gott, er sei kein Mann der Rede, er könne nicht dem Pharao entgegentreten. Gott muß in Zorn gegen ihn entbrennen und ihm seinen Bruder Aaron als Sprecher zuordnen, bis er endlich den Ruf akzeptiert. Wie sehr hat er sich verändert. Am Anfang erschlug er ohne Hemmungen einen Ägypter. Jetzt sieht er vor sich einen unendlichen Widerstand von allen Seiten und weiß genau, wie wenig er ihm gewachsen ist. Aber offenbar kann Gott nur einen solchen Menschen als sein Werkzeug der Befreiung gebrauchen, niemanden sonst.

6. Der Freiraum als versuchte Lösung

Ich gehe jetzt nicht mehr so zusammenhängend den biblischen Text entlang wie bisher. Ich greife nur einzelne Stücke heraus. Vor allem einmal das seltsame 5. Kapitel des Buches Exodus. Es enthält eine erste Phase der Verhandlungen mit dem Pharao. Sie scheitern völlig und schlagen ins Gegenteil aus. Die Arbeitsnormen werden erhöht. Die Fronarbeiter müssen am Ende nicht nur ihre Arbeit leisten, sondern bekommen auch kein Material mehr geliefert und müssen es sich selbst beschaffen. Die Ältesten Israels klagen Mose und Aaron bitter an, und Mose betet verzweifelt zu Gott. Sieht man genau zu, was vor sich gegangen ist, so zeigt sich, daß Mose und Aaron nur mit der halben Wahrheit herausgerückt sind. Sie haben gar nicht gesagt, Israel wolle Ägypten verlassen. Sie haben nur darum gebeten, daß Israel drei Tage weit in die Wüste ziehen darf, um seinem Gott ein Fest zu feiern. Sie wollten die Last und die Not dadurch erleichtern, daß sie sich in Verhandlungen einen Freiraum zusichern ließen, der die harte Zeit unterbricht und erträglicher macht. Sie haben das ausbeuterische System als solches gar nicht in Frage gestellt. Sie haben nur innerhalb des Systems durch Verhandlungen relative Verbesserungen zu erhalten versucht. Ich glaube, hier ist die Figur, die heute das soziale Handeln der Christen zugunsten der Leidenden dieser Welt weitgehend bestimmt. Unendliche Kraft stecken wir in sie hinein. Wir versuchen, nach Möglichkeit eine relative Besserung zu erreichen, weithin in Verhandlungen und mit Vernunftargumentation. Mose muß am eigenen Leibe erfahren, daß auch dieser Versuch nichts hilft, und alle Israeliten zusammen dazu. Erst durch eine solche Erfahrung wächst die Überzeugung, daß es zu einem völligen Bruch, zu einem radikalen Auszug kommen muß. Die Bibel läßt Gott schon in der Dornbuschvision voraussagen, daß Mose den Versuch zwar machen soll, daß er aber scheitern wird (Ex 3,18-19). Erst dann, von Kapitel 6 an, kommt es nach einer neuen großen Gotteserscheinung zum eigentlichen Ringen um Israels Auszug aus Ägypten. Es ist dargestellt in der Erzählung von den ägyptischen Plagen.

7. Die Selbstzerstörung des sich verhärtenden Bösen

Ich kann hier nicht breit auf die Erzählung von den ägyptischen Plagen eingehen. Ich will nur sagen, wie ich letztlich ihre Aussage formulieren würde. Das Motiv, das sich durch sie hindurchzieht, ist das der Verhärtung des Pharao. In dem Maß, in dem er sehen muß, daß sein Verhalten Unheil über das ihm anvertraute Land und die ihm anvertraute Gesellschaft bringt, verbiestert er sich immer mehr und führt so immer neues Unheil herauf. Das ist eine Aussage, die der Annahme des historischen Materialismus, man müsse die kapitalistischen Systeme nur immer weiter ihr Spiel treiben lassen, und am Ende werde automatisch aus dem immer größeren Chaos eine neue Gesellschaftsstufe hervorgehen, diametral entgegengesetzt ist. Mose hat in diesem Zusammenhang eine äußerst undankbare Aufgabe. Er hat alles anzukündigen. Wer wirkliche Befreiung bewirken will und wirkliche Gerechtigkeit heraufführen will, kommt nicht daran vorbei, die Wahrheit auszusprechen und die absehbaren Folgen vorauszusagen. Damit macht man sich keine Freunde, und es liegt ausgesprochen in der Logik der Dinge, daß am Ende Mose und sein ganzes Volk verjagt werden. Der Weg zur Gerechtigkeit der Verhältnisse geht nicht ohne Befreiung, und die Befreiung ist ein Auszug. Der geschieht nicht friedlich, sondern unter dem Zeichen des Hasses und der Feindschaft derer, die man verläßt, und selbst mit deren Versuch, den schon geschehenen Auszug nachträglich wieder rückgängig zu machen –durchaus mit Gewalt.

8. Der Kampf mit den Murrenden

Zu den auffallendsten Dingen im Pentateuch gehört der Zweifrontenkrieg, den Mose ständig zu führen hat. Eigentlich sollte er Israel aus dem Fanggriff Ägyptens befreien und in ein neues Land und eine neue Gesellschaftsgestalt hineinführen. Aber zugleich hat er ständig mit den Befreiten selbst zu tun, denn die sehnen sich nach Ägypten zurück. Der Mensch ist von der Gesellschaft, der er unterworfen war, so geprägt, daß er der Freiheit und der ihm angebotenen wirklich gerechten Gesellschaft nicht traut. Diese Dinge setzen Vertrauen voraus, Glauben an Wunder, und der Mensch will doch Sicherheit. Es lohnt sich einmal, vom Buch Exodus bis zum Buch Numeri all die Murrgeschichten der Wüstenwanderungszeit zu lesen. Denn sie drücken immer neu die Angst vor der neuen Freiheit aus. Gott reagiert in diesen Geschichten auf doppelte Weise. Einmal mit unendlichem Verständnis und unendlicher Geduld. Er erfüllt alle Wünsche: Wasser, Manna, Wachteln. Aber von einer bestimmten Stelle an, nachdem er sich nämlich in der Theophanie am Sinai dem ganzen Volk in seiner Herrlichkeit gezeigt hat und in seiner Mitte Wohnung genommen hat, nimmt diese Erfüllung der Wünsche der Israeliten plötzlich eine andere Gestalt an. Wenn sie sagen: „Ach, könnten wir doch nach Ägypten zurückkehren“, dann läßt er sie zurückkehren. Und wenn sie sagen: „Ach, wären wir doch in dieser schrecklichen Wüste gestorben“, dann läßt er sie sterben. In 11 Tagen sollte die Wüste durchquert sein (Dtn 1,3). Dann wird daraus die Spanne von 40 Jahren, und eine ganze Generation stirbt aus, damit Gott mit einer neuen noch einmal neu anfangen kann. Mose hat das alles durchzutragen. Mir scheint, das ist vielleicht das Größte, was man an Mose, dem Befreier, lernen kann: die unendliche Geduld und Treue, mit der er mit den Befreiten umgeht, die so schnell vergessen haben, daß ihnen Glück zuteil wurde. Es ist schon ein hartes Gebet Moses, das wir in Num 11,10-15 lesen, inmitten einer Szene voller Unglück: „Mose hörte die Leute weinen, eine Sippe wie die andere. Jeder weinte am Eingang seines Zeltes. Da entbrannte der Zorn des Herrn. Mose aber war verbittert und sagte zum Herrn: Warum hast du deinen Knecht so schlecht behandelt, und warum habe ich nicht deine Gnade gefunden, daß du mir die Last dieses ganzen Volkes auferlegst? Habe denn ich dieses ganze Volk in meinem Schoß getragen, oder habe ich es geboren, daß du zu mir sagen kannst: Nimm es an deine Brust, wie die Amme den Säugling, und trag es in das Land, das ich seinen Vätern mit einem Eid zugesichert habe? Woher soll ich für dieses ganze Volk Fleisch nehmen? Sie weinen vor mir und sagen zu mir: Gib uns Fleisch zu essen. Ich kann dieses ganze Volk nicht allein tragen, es ist mir zu schwer. Wenn du mich so behandelst, dann bring mich lieber gleich um, wenn ich überhaupt deine Gnade gefunden habe. Ich will mein Elend nicht mehr ansehen.“ Dieser Mose ist am Ende. Doch Gott reißt ihn auch hier heraus. Es kann aber auch umgekehrt sein: daß Gott am Ende ist, und Mose um Gott ringen muß.

9. Das Nein zu einer neuen Stunde Null

Die größte Krise zwischen Gott und dem von ihm befreiten Volk entsteht unmittelbar nach der Theophanie. Das Volk ist frei. Es ist zum Berg Gottes gezogen. Und sein Gott hat sich ihm in seiner Herrlichkeit gezeigt. Dann ist Mose zu ihm ins Wolkendunkel gestiegen, um Gottes Wort zu empfangen, die heilige und gerechte Ordnung, die er seinem Volk nun geben will. In diesem leeren Augenblick nach der überwältigenden Erfahrung hat das Volk die Dinge selbst in die Hand genommen und sich seinen eigenen Gott gemacht. Das Fest, das zu feiern sie aus Ägypten ausgezogen waren, hatte mit der Theophanie kaum begonnen, da haben sie es schon in ihr eigenes orgiastisches Fest umgewandelt und den, der sie aus Ägypten geführt hatte, vergessen. Voll Zorn teilt Gott dies Mose auf dem Berge mit und sagt, was er vorhat: Dieses Volk zu vernichten und aus ihm, Mose, wie einst aus Abraham, ein neues Volk werden zu lassen. Er braucht offenbar nur eines, dann wird er sofort handeln: Moses Ja. Und Mose verweigert das Ja. Er ringt mit Gott um das befreite Volk, das so versagt hat. Am Ende hat er Gott bekehrt. Ich kann auf diese unglaublichen Kapitel 32–34 des Buches Exodus hier nicht eingehen. Aber hier hat die Spiritualität der Befreiung ihren kritischsten und zugleich höchsten Punkt erreicht: wenn der Befreier nicht nur gegen die Unterdrücker und nicht nur gegen die widerwilligen Befreiten, sondern sogar gegen den befreienden und Gerechtigkeit schenkenden Gott selbst Stellung nehmen muß, weil dieser an den Befreiten verzweifelt.

10. Das Fest und die gerechte Gesellschaft

In all dem verwandelt sich Mose aber noch einmal. In ihm verlagern sich die Gewichte. Man könnte sagen: von der Befreiung zur Gerechtigkeit. Natürlich ist die Befreiung Unterdrückter und Ausgebeuteter höchste Gerechtigkeit. Aber das kann ja nur den Sinn haben, daß sich das, was war, nicht wiederholen soll. Die Befreiten sollten sich jetzt formieren zu einer neuen Gesellschaft, die nicht mehr unterdrückt und ausbeutet, sondern in der Gerechtigkeit blüht. Genau dieser Punkt ist erreicht, wenn Israel am Sinai ankommt. Hier zeigt sich ihm sein Gott, hier entsteht das Heiligtum und das Fest, durch das er in der Mitte dieser neuen Gesellschaft wohnt, und hier entwirft Gott ihnen ihre neue, gerechte Sozialordnung. Hier wird Mose zum Mittler des Zukunft entwerfenden Gottesworts. Immer wieder vernimmt er es, auf dem Berg, dann im Zelt am Fuß des Berges, dann im Zelt auf der Wanderung. Immer wieder gibt er es weiter. Am Anfang und am Ende der 40 Jahre faßt er diesen Gesellschaftsentwurf in großen Gesetzestexten, dem Bundesbuch und dem Deuteronomium, zusammen und läßt Israel in einem feierlichen Bundesschwur sich darauf festlegen. Um ihn in dieser Funktion zu erleben, muß man vor allem das Buch Deuteronomium lesen. Mose tritt hier in höchster Autorität auf. Doch ist er vor allem ein Volkserzieher, der mit allen Mitteln versucht, dem neuen Raum der Freiheit, der aus der Befreiung entstanden ist, nun Strukturen und Dauer zu verleihen.

Ich glaube, eine Spiritualität der Befreiung, die nicht dahin gelangt, die einmal Befreiten in eine neue, gerechte Welt hineinzugeleiten, eine Art Kontrastwelt zu der uns beherrschenden Welt der Ungerechtigkeiten, ist erst ganz am Anfang ihres Weges und hat noch sehr viel von Mose zu lernen.

©Norbert Lohfink

 

Vortrag vor Jesuiten in Nürnberg am 12. September 2002; nicht gedruckt erschienen.