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Von einem, der zuviel wußte.

Versuch über Stefan Heyms "König David Bericht"

von Walter Dietrich

erschienen in: König David - biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt (19. Colloquium der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften), hg. Walter Dietrich, Freiburg/Schweiz 2003, S. 100-112

 

 

"Gesegnet sei der Name des HErrn, unsres GOttes, dessen Wahrheit ist wie eine mit bunten Blumen geschmückte Wiese, auf daß ein jeglicher die ihm gefällige pflücke." Wer den sarkastischen Unterton in diesem Satz überhört, der würde ihn in der Bibel, genauer in Luthers Übersetzung der Heiligen Schrift suchen. Er steht aber in dem 1972 in deutscher Sprache erschienenen Roman des in Ost-Berlin lebenden Schriftstellers Stefan Heym. [1] Sein Gegenstand ist das Leben des Königs David. Von daher erklärt sich die so biblisch anmutende Sprache, die das gesamte Buch prägt und für die der eben zitierte Satz nur ein Beispiel ist. Dessen gar nicht biblische Aussage aber  und auch hierin steht er nur als ein Beispiel für viele andere  verrät etwas von dem Standort des Verfassers.

Stefan Heym wurde 1913 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Zwickau geboren, emigrierte 1933 in die USA, kehrte 1945 nach Deutschland zurück, arbeitete zunächst als Journalist in München und siedelte 1952 in die DDR über. International bekannt wurde er durch die Romane "Der bittere Lorbeer" (englisch: "Crusaders") und "Die Papiere des Andreas Lenz". 1959 erhielt er den Nationalpreis der DDR. Doch während der Auseinandersetzungen um das Prinzip des "Sozialistischen Realismus" fiel er in Ungnade. Er wurde aus dem Vorstand des Schriftstellerverbands abgewählt, seine nach 1960 geschriebenen Bücher "Lasalle" und "Die Schmähschrift" wurden in der DDR noch nicht publiziert. Auch sein neuester Roman, "Der König David Bericht", fand Verleger in den USA und in der Bundesrepublik, bisher aber nicht in der DDR.

Diese Tatsache und die dahinter stehenden Gründe waren das beherrschende Thema der Rezensionen, die gegen Ende des Jahres 1972 in zahlreichen westdeutschen Publikationsorganen veröffentlicht wurden. Die Fragen hingegen, die das jüngste Werk Heyms dem Alttestamentler und Theologen, aber auch dem an biblischen und theologischen Problemen interessierten Nicht-Fachmann stellt, sind, soweit ich sehe, noch nicht thematisch bedacht worden. Dabei darf man sich von dem Buch eines renommierten DDR-Schriftstellers, das sich mit einem biblischen Stoff befaßt, auch in dieser Hinsicht einiges erwarten. Es genügt, hierzu auf Thomas Manns Joseph-Roman einerseits und andererseits auf Ernst Blochs Schrift "Atheismus im Christentum" sowie auf die Versuche zu einem marxistisch-christlichen Dialog zu verweisen.

I  Die Story

Stefan Heyms Buch trägt den Titel "Der König David Bericht" und die Gattungsbezeichnung "Roman". Das klingt nach einer contradictio in adjecto: "Bericht" und "Roman" sind sehr verschiedene Dinge. Der scheinbare Widerspruch löst sich bei näherem Zusehen schnell auf: Das Wort "Bericht" bezieht sich auf die uns hauptsächlich in den Samuelbüchern überlieferte Schilderung des Aufstiegs und der Thronnachfolge Davids. Und in der Tat wird sich kaum bestreiten lassen, daß diese Texte weithin den Charakter eines Geschichtsberichtes haben; ob und inwieweit sie doch nicht nur Bericht im Sinne einer objektiv-kühlen Darstellung historischer Begebenheiten sein wollen, wird uns später noch beschäftigen müssen. Der Begriff "Roman" nun bezeichnet eine völlig andere Ebene des Heymschen Buches, nämlich diejenige, auf der die Frage nach dem Zustandekommen des biblischen "Berichts" über David abgehandelt wird. Es ist nicht ohne Reiz, zu sehen, wie sich ein Schriftsteller, dessen frühere Werke alles andere als biblisch-exegetische Untersuchungen sind, in die Reihe der Exegeten einfügt oder auch nicht einfügt, die sich mit Problemen der Literarkritik und Redaktionsgeschichte befassen. Daß Heym in dieser Gesellschaft von vornherein Außenseiter sein muß, ist bereits dadurch angezeigt, daß er nicht eine wissenschaftliche Arbeit vorlegt, sondern eben einen Roman.

Dieser Roman spielt in der Zeit Salomos. Der König, gerade erst unter den bekannten obskuren Umständen auf den Thron gelangt, beauftragt eine Kommission, die aus einigen hohen, ihm ergebenen Beamten und dem "Autor und Historiker" Ethan ben Hoshaja besteht, mit der Ausarbeitung des "Einen und Einzigen Wahren und Autoritativen, Historisch Genauen und Amtlich Anerkannten Berichts über den Erstaunlichen Aufstieg, das Gottesfürchtige Leben, sowie die Heroischen Taten und Wunderbaren Leistungen des David ben Jesse ..., des Erwählten GOttes und Vaters von König Salomo" (11). Salomo selbst klärt Ethan über den "Sitz im Leben" des geplanten Werkes auf. Sein Königtum, sagt er, beruhe auf drei Erwählungsakten: der Erwählung Israels zum Volk Jahwes, der Erwählung Davids zum König dieses Volkes und seiner eigenen Erwählung zum Nachfolger Davids; es sei klar, fügt er hinzu, "daß Erwählung Nummer drei nur Gültigkeit haben wird, wenn Nummer zwei unumstößlich erwiesen ist" (10). Der Kommission Aufgabe ist es also, für die Herrschaft Davids und damit auch für die seines Sohnes Salomo im nachhinein den Legitimitätsbeweis zu erbringen.

Vergleicht man diese Zielsetzung mit dem biblischen "König-David-Bericht", dann drängt sich die Vermutung auf, daß die Kommission entweder die Absicht Salomos nicht voll begriffen hat oder durch den ihr erteilten Auftrag überfordert war; denn über weite Strecken lesen sich ja die Samuelbücher ganz und gar nicht wie eine servile Lobhudelei auf die Könige David und Salomo. Heym weiß das sehr wohl  aber er weiß auch den Grund dafür: er liegt in der Person Ethans, der Kommission beigegeben als fachkundiger "Redaktor, jedoch ohne Stimmrecht" (11). Diesem Mann, der von einem unbändigen Eros zur geschichtlichen Wahrheit besessen und dem es darum zuwider ist, für "alle ... Zeiten Eine Wahrheit auf(zu)stellen" (12), der aber andererseits nicht zum Märtyrer geschaffen ist, gelingt es mit Hilfe seiner Intelligenz, Redegewandtheit und Umsicht, zahlreiche Fußangeln in den offiziösen Report einzubauen, in denen sich der aufmerksame Leser verfangen und durch die er zum Nachdenken darüber, wie es wohl wirklich gewesen sein mag, gezwungen werden soll.

Um die Gestalt Ethans, der durch eine Notiz in 1Kön 5,11 tatsächlich als Zeitgenosse Salomos, mitnichten aber als Redaktor eines großen Geschichtswerkes ausgewiesen ist, ranken sich alle romanhaften Züge in Heyms Buch; nicht nur die Schilderung seiner persönlichen Ansichten, Lebensgewohnheiten und Erfahrungen, sondern auch die Charakterisierung von Persönlichkeiten in Salomos Umgebung wie von einfachen, verarmten Leuten, die Beschreibung des allgemeinen Milieus und der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Salomozeit, die Darstellung lebensvoller Szenen, überhaupt die Gestaltung des gesamten Handlungsablaufes. Der Leser sieht und erlebt all dies gleichsam durch die zentrale Romanfigur Ethan ben Hoshaja hindurch.

Die Story, die dem Roman zugrunde liegt, ist rasch zu Ende erzählt. Ethan, mit seiner Familie aus einem Landstädtchen nach Jerusalem übergesiedelt, wird Zeuge der Wirren, Intrigen und Morde, die der Thronbesteigung Salomos folgten. In dieser unruhigen Zeit, stets auch selbst in der Gefahr, ihr zum Opfer zu fallen, fordert er als eine Art gelehrter Reporter, das heißt durch das Studium schriftlicher Hinterlassenschaften und durch Interviews mit noch lebenden Augenzeugen, Stück für Stück die Wahrheit über die bereits mythisch irrlichternde Gestalt Davids zutage. Zunächst vermag er die Machthaber in Jerusalem, großenteils versammelt in der Kommission, mit Geschick und Verschlagenheit über seine Absichten im unklaren zu halten. Doch dann zieht sich das Netz, das die Geheimpolizei um ihn legt, immer enger zusammen. Er bleibt schließlich nur deshalb am Leben, weil Salomo in einem seiner berühmten, weisen Urteile zu der Erkenntnis gelangt, daß man Schriftsteller aus Imagegründen besser nicht totschlägt, sondern totschweigt. Ethan aber hat seine Aufzeichnungen rechtzeitig versteckt; Stefan Heym gebührt das Verdienst, diesen frühesten Kommentar zu den Samuelbüchern, verfaßt von einem Mann, der es sehr genau wissen muß, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben.

II  Sprache und Stil

Betrachtet man das Buch auf seine formale Seite, also auf Sprache, Stil, Aufbau, kurz: auf die Erzähltechnik hin, so fallen zunächst die zahlreichen, übrigens größtenteils der unrevidierten Lutherübersetzung entlehnten Biblizismen ins Auge. Sie lassen Ethan, der von der ersten bis zur letzten Seite im Ich-Stil berichtet, als Kind seiner Zeit erscheinen, mehr noch: sie schlagen eine Brücke zwischen der Romanform und dem biblischen Stoff, zwischen der Sprachwelt des heutigen Lesers und derjenigen der biblischen Autoren. Indem Ethan ganz selbstverständlich die Sprache der alten Texte spricht, beginnen diese zu leben. Da heißt es nicht "in ganz Israel", sondern "von Dan an bis gen Beer-Sheba" (7.225 u.ö.), nicht "ich fürchtete mich", sondern: "Ich spürte Furcht in meinen Eingeweiden" (93); von einem, der sich vor herannahenden Soldaten aus dem Staub gemacht hat, wird gesagt, er sei verschwunden, "als hätte ihn Sheol geschluckt" (30); ist Ethan durch ihm nahegehende Ereignisse aufgewühlt, so formuliert er zuweilen Gebete, die sich im Psalter wohl sehen lassen könnten (206.235f.251); mitunter werden Redeweisen aus anderen Teilen der Bibel aufgegriffen, durch die Einpassung in den neuen Kontext aber verfremdet, so, wenn Ethan die Suche nach bestimmten Tontäfelchen in den verwahrlosten königlichen Archiven mit den Worten schildert: "und es geschah, daß sich eine Staubsäule erhob gleich der Wolkensäule, die vor den Kindern Israels herzog auf dem langen Marsch aus Ägypten und durch die Wildnis" (109).

Erwähnt sei ferner der enorme Bilderreichtum, dessen sich Heym befleißigt und der nachgerade meta-biblisch zu nennen ist. So heißt es über David, als er vor Absalom geflohen ist: "Ein Wolf, der von fernher heult, ist gleichwohl ein Wolf" (224), oder von dem allmächtigen Polizeichef Salomos, Benaja, der Ethan einmal durch unerwartete Freundlichkeit überrascht: "eine Hyäne, die lächelt, zeigt auch ihre Zähne" (229), und umgekehrt von einem, der vor Benajas Spitzeln Angst hat: "seine Augen huschten umher wie zwei Mäuse in der Falle" (246). Jener reiche Schafzüchter Nabal, dessen Witwe dann der junge David zur Frau nahm, wird beschrieben als einer, der "sich vollfraß und vollsoff, bis er wie ein gestopftes Stück Darm war, und so verlockend für eine Frau wie dieses" (79). Abischag von Schunem, dem alternden David beigesellt, damit er wieder warm werde, verfügt über "Hinterbacken fest und saftig wie Melonen aus dem Tal Jesreel" (66). Man sieht, Heym versteht es, seinen Lesern die fremdartigen Reize der altorientalischen Welt durch Nachahmung der ihr eigenen drastischen Sprache schmackhaft zu machen.

Es kommen neben diesem noch andere Mittel zum Einsatz, die den garstigen Graben eines zeitlichen Abstandes von drei Jahrtausenden zu dem behandelten Stoff überwinden helfen. Der biblische Text, dem modernen Menschen vielfach zur ehrwürdigen Urkunde oder zum verstaubten Fossil erstarrt, wird immer wieder aufgebrochen, indem die wirkliche oder vermeintliche Ursprungssituation seines Entstehens zu neuem Leben erweckt wird. So verwendet Heym viel Mühe darauf, fast jeden Abschnitt aus den Samuelbüchern dem Ethan auf eine andere Weise bekannt werden zu lassen. Einmal befragt der rührige Redaktor den Mann auf der Straße, dann Sauls Tochter Michal, dann Joab, dann gar die Nachfolgerin der Hexe von Endor; einmal spielt ihm Benaja in hinterlistiger Absicht Tontäfelchen aus der Zeit Davids zu, ein andermal findet er solche in den Archiven des Königs oder in dem halbverfallenen Haus Ahitophels, des klugen Ratgebers beim Aufstand Absaloms gegen David. Diese Zersplitterung der großen Erzählblöcke über die Anfänge des Königtums in Israel wird zwar den Fachkundigen schmerzen, verhilft aber dem weniger versierten Leser zu einer höchst abwechslungsreichen Lektüre; von der sachlichen  nebenbei auch der ästhetischen  Problematik solchen Vorgehens muß freilich noch die Rede sein.

Für zusätzliche Auflockerung sorgen farbkräftige Milieuschilderungen, etwa die von den beiden Hofschreibern, die sich, statt gemeinsam die Archive in Ordnung zu bringen, mittels Würfeln bis aufs Hemd bekriegen und herzzerreißend ihr Spielerpech bejammern (107f); oder die von der geschlossenen, priesterlicher Obhut unterstellten Anstalt für wirkliche oder vom Staat dazu erklärte Geisteskranke, in der unbeschreibliche, von Ethan gleichwohl sorgfältig beschriebene Zustände herrschen (198f); oder die von Ethans letzter Begegnung mit dem hauptstädtischen Pöbel, der voller Haß auf den vornehmen, aber nicht mehr unter Polizeischutz stehenden Mann eindringt, "heiß und stinkend", mit "eitrigen Augen" und "drohend erhobenen Armstümpfe(n)" (261f). In schreiendem Kontrast dazu Berichte von üppigen Gelagen der Hautevolée (91f.128) oder von Unterredungen zwischen dem König und seinen Vertrauten, bei denen im ziselierten Hofstil gesprochen wird und jeder darauf bedacht ist, sich durch wohlgesetzte, gerissene und schmeichlerische Worte die Gunst der jeweils Höherstehenden zu erhalten (z.B. 8ff.88ff.252ff).

Es sei betont, daß die genannten Beispiele keineswegs atypisch sind; Heym hat sehr bestimmte, gleich noch näher zu untersuchende Vorstellungen von den gesellschaftlichen Zuständen in der frühen israelitischen Königszeit. Besonders eindrücklich ist in dieser Hinsicht die Zeichnung einzelner Charaktere. Auch diese Technik der Typisierung, die sich wohl ihre Anregungen von den Bibeltexten geben läßt, die aber über die Vorlage weit hinausgreift, dient zunächst der Verlebendigung des historischen Stoffs, ist überdies jedoch geeignet, gezielte Schlaglichter auf die politischen Zustände in der Salomozeit zu werfen. Der König selbst, ein Mann von eher abstoßendem Äußeren, erscheint als mißtrauischer, grausamer, launischer und schlauer Despot, versessen auf die Macht und bereit, sie mit allen Mitteln des absoluten Herrschers zu verteidigen. In einem hellen Moment beschreibt ihn der sonst servile Prophet Nathan als einen "Nachäffer, eitel, ohne Erleuchtung, seine Träume mittelmäßig, seine Verse seicht, seine Verbrechen Ergebnis seiner Furcht, nicht seiner Größe. Er lechzt nach Anerkennung. Dauernd muß er beweisen, daß er wichtig ist. Darum sammelt er: Gold, Bauten, Heere, ausländische Gesandtschaften, Weiber" (247f). Die Umgebung dieses Führers ist seiner würdig. Benaja, Chef des Heeres und der Polizei und damit der starke Mann im Staate, denkt nur in militärischen Kategorien, dies aber in solcher Geradlinigkeit, daß Ethan ihn als den "Gescheitesten", aber auch Gefährlichsten in Salomos Führungsclique einschätzt (48). Er kann sich über Legenden, die David einen Glorienschein umlegen, lustig machen, weil nach seiner Meinung die Taten wiegen, nicht schöne Worte; umgekehrt ist er sicher, das Volk mit Hilfe seiner Krethi und Plethi binnen Stunden von jeder beliebigen Geschichte über David oder Salomo überzeugen zu können; er erpreßt Geständnisse ganz nach Gefallen, er sorgt in Jerusalem für die erwünschte Friedhofsruhe. Der Kanzler Josaphat ist der Inbegriff des kalten, nie die Contenance verlierenden Technokraten der Macht. Er ist es, der stets darauf drängt, anstößige Tatsachen aus dem Leben Davids nicht zu verschweigen, da sie ohnehin bekannt sind, sie aber so zu berichten, daß sie glatt und weich über die Zunge gehen. Zadok, der Oberpriester, ausgestattet mit einem "öligen Gesicht" nebst "Pausbäckchen" (44f) und nicht nur darin Prototyp des feisten geistlichen Schmarotzers, und der Prophet Nathan, der sich nur einmal in seinem Leben, nämlich nach Davids Mord an Uria, zu einer halbwegs großen Tat aufgeschwungen hat, verkörpern den hoffnungslos korrumpierten Kultbetrieb in einem totalitär regierten Staat.

Zusammen mit diesen Herren, zu denen noch die beiden gehobener Gedankengänge nicht fähigen Hofschreiber kommen, hat Ethan den König-David-Bericht auszuarbeiten. Diese Konstellation bietet Möglichkeiten genug zur Einschaltung bitterernster wie geistreich tändelnder Wortgefechte und komischer wie spannender Szenen, kurz: sie garantiert Anschaulichkeit und Frische des Erzählens. Sie läßt jedoch auch Schlimmes ahnen, nicht nur für Ethan, sondern auch für das Bild Davids, das eine solche Kommission erstellen, und mehr noch für das, welches Stefan Heym hinter der Kulisse des Kommissionsberichtes ausfindig machen wird. Sehen wir also zu, wie es mit dem erstaunlichen Aufstieg, dem gottesfürchtigen Leben sowie den heroischen Taten und wunderbaren Leistungen des David ben Jesse wirklich gewesen ist!

III  (Re-) Konstruktion

Auch für den Romancier Stefan Heym gibt es keinen anderen Zugang zum historischen David als den über die biblischen Texte. Nur verschafft er sich durch die Einführung des Ethan ben Hoshaja einen gehörigen Vorsprung vor der Exegetenzunft; denn Ethan kennt nicht nur die Davidgeschichten, die uns im Alten Testament überliefert sind, sondern er weiß auch, warum gerade sie und warum sie in der uns geläufigen Gestalt Eingang in das Werk der Kommission gefunden haben. Dieses Plus an Informationen aus erster Hand nutzt Heym weidlich aus; kaum ein Text, den er nicht in ein neues, überraschendes Licht rückt. Im folgenden einige Beispiele:

In der Kommission entsteht ein langes Hin und Her darüber, ob die Erzählung von Davids Berufung an den Hof Sauls, wo er den König bei seinen Anfällen durch Harfenspiel beruhigen soll (1Sam 16,14ff), und die andere von Davids Sieg über Goliath (1Sam 17) nebeneinander Platz haben, und wenn ja, in welcher Reihenfolge; denn in beiden begegnen sich Saul und David das erste Mal. Schließlich spricht Benaja, des endlosen Gezanks müde, ein Machtwort: In die Goliath-Geschichte wird ein Vers eingefügt (1Sam 17,15), der den Hiat notdürftig überbrückt (51ff).  In den Samuelbüchern gibt es zwei Darstellungen vom Ende Sauls; nach der einen stürzte sich der schwer verwundete König, den sicheren Tod vor Augen, in sein Schwert (1Sam 31,17), der anderen zufolge wurde Saul auf seine eigene Bitte hin von einem jungen Amalakiter getötet (2Sam 1,116). Heym nun läßt Ethan herausfinden, daß die zweite Version die historisch zutreffende ist, während die erste, die eine Mitwirkung Davids am Tod seines Vorgängers a limine ausschließt, von keinem anderen als Benaja in Umlauf gesetzt wurde (112ff).

Unschwer läßt sich hinter diesem Verfahren des Aufdeckens von Widersprüchen im Text die literarkritische Methode erkennen. Allerdings erfährt sie durch den erwähnten Informationsvorsprung Heyms eine wesentliche Bereicherung: Die Geschichte vom Suicid Sauls kann jetzt ohne Umschweife als durchsichtiger Versuch zur Reinwaschung Davids hingestellt werden, obwohl doch die biblische Darstellung, wonach Saul sich wirklich selbst umbrachte und der junge Mann aus Amalek sich in der Hoffnung auf Davids Gunst lediglich mit fremden Federn schmückte, durchaus nicht von vornherein unwahrscheinlich ist. Ähnliches gilt von der Goliath-Erzählung: Ethan berichtet, daß sie nur durch den Volksmund  vertreten durch drei fragwürdige Gestalten, die sich "behördlich zugelassene Erzähler von Geschichten und Legenden" nennen (48)  verbürgt sei, daß hingegen in den sonst sehr zuverlässigen Aufzeichnungen der Heeresführung kein Wort davon stehe. Kurz, die Heldentat des jungen David ist ein frommes Märchen. Zur Literarkritik gesellt sich in diesem Fall also die aufklärerisch historische Kritik, die nicht nur schöne Legenden erbarmungslos destruiert, sondern genauso rührende Geschichten wie die von der zweimaligen Verschonung Sauls durch David (1Sam 24; 26). Auch hier wieder erklärt Heym nicht etwa, ein solches Verhalten sei historisch unglaubhaft, sondern er läßt Ethan die sichere Kunde zukommen, daß David selbst diese Erzählungen inauguriert habe; die offiziellen Dokumente aus dieser Zeit enthielten nicht den leisesten Hinweis auf Davids Großmut (84).  Desgleichen erfährt Ethan von dem gewiß unverdächtigen Kanzler Josaphat, David persönlich habe die Ermordung von sieben Nachkommen Sauls durch die Einwohner Gibeons veranlaßt (2Sam 21,1ff); die Erklärung, daß dadurch eine Hungersnot von Israel abgewendet werden sollte, habe er sich als Alibi ausgeheckt (155ff).  Auch die düster-mystische Erzählung von Sauls Besuch bei der Hexe von En-dor (1Sam 28,3ff) findet eine ganz einfache Erklärung: Ethan reist selber zu jenem Ort und macht dort, genau wie Saul, die Bekanntschaft mit Geistern aus der Unterwelt; erreicht wird die Bewußtseinserweiterung durch  Haschisch und sexuelle Stimulantien (100ff).

Mit anderen Texten  und zwar vor allem mit solchen, die der unbefangene Leser für ohnehin schon sehr königskritisch und deshalb für zuverlässig halten möchte  hat Heym erheblich größere Schwierigkeiten; sie bekommt er nur mit Hilfe der These in den Griff, daß in der Fassung des Kommissionsberichtes die eigentliche Pointe weggelassen oder abgefälscht sei. Von den festgestellten 35 Fällen dieser Art  die Zahl ist eher noch zu tief gegriffen  seien hier nur zwei Beispiele angeführt. Bekanntlich ist David auf der Flucht vor Saul zu den gefährlichsten Feinden Israels, den Philistern, übergelaufen. Natürlich schildert Heym genüßlich, unter welchen Mühen sich die salomonischen Geschichtsschreiber dazu durchrangen, diese für sie äußerst peinliche Tatsache in den König-David-Bericht aufzunehmen (85ff). Doch nicht genug damit: Ethan selbst schlägt vor, die mörderischen Raubzüge, die David von seinem philistäischen Lehen Ziklag aus unternommen hat, nicht, wie es nach Benajas Aussage (87) der Wahrheit entsprochen hätte, gegen Bewohner Judas gerichtet gewesen sein zu lassen, sondern, wie es jetzt in der Bibel steht (1Sam 27,812), gegen nichtisraelitische Nomadenstämme (90). Das zweite Beispiel: Sauls Sohn und Nachfolger Eschbaal ist von zweien seiner Offiziere umgebracht worden; David ließ die beiden, als sie ihm voller Erwartung den abgeschlagenen Kopf seines Widersachers überreichten, sofort töten (2Sam 4). Der Verdacht, David habe bei der Affäre seine Hand im Spiel gehabt, liegt, trotz seines harten Vorgehens gegen die Mörder, nahe genug. Ethan aber weiß Genaues. Aus einigen zweifelsfrei authentischen Tontäfelchen, die nur er kennt, geht hervor, daß jene beiden Männer schon lange als gutbezahlte Spione in Davids Diensten standen (120ff), dieser also der "mutmaßliche Auftraggeber" (138) war.

Man wird einräumen müssen, daß Heyms Rekonstruktionsversuche Phantasie und Scharfsinn aufweisen. Andererseits jedoch mag sich nicht nur der fromme Bibelleser, sondern vielleicht eher noch der Alttestamentler, der es an sich gewohnt ist, Texte kritisch und ohne falschen Respekt zu befragen, zuweilen gereizt fühlen ob der Willkür, mit der hier viele der Erzählungen über David behandelt werden. Nun wird sich freilich auch Heym  so ist mindestens zu hoffen  darüber im klaren gewesen sein, daß er nicht mit allen seinen Exegesen oder auch Eisegesen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und historische Gesichertheit würde erheben können. Welche Absicht aber steht dann hinter seinen Kühnheiten?

IV  Intention

Eine erste Antwort auf diese Frage bietet das Bild Davids, das Heym mit Hilfe seiner Textinterpretationen vor dem Auge des Lesers erstehen läßt. Einige seiner Züge dürften bisher schon deutlich geworden sein, so daß eine summarische Wiedergabe wohl erlaubt ist. Zunächst muß betont werden, daß David in den Augen Ethans und damit auch Heyms eine vielschichtige, faszinierende, schwer zu ergründende Gestalt ist. Verfehlt ist es, ihm einen Heiligenschein zu verleihen, aber verfehlt ist es ebenso, ihn zu einem unbedeutenden Potentaten herabzuwürdigen. Er war "von schöner Gestalt" (34), heißt es, und von "natürliche[r] Anmut. Er gewann die Menschen mit ein paar Worten, einem Blick, einer Handbewegung" (37). Der "Zauber seines Leibes" (34) riß Frauen wie Männer hin, und David genoß beides. Diesen betörenden jungen Mann ersahen sich weitblickende Priester, an ihrer Spitze Samuel, als künftigen Herrscher aus. Sie schulten ihn und schleusten ihn dann an den Hof Sauls, sie deckten ihn, als der König das Spiel zu durchschauen begann. David glaubte ihnen, daß er der Erwählte des Herrn sei, dazu bestimmt, ein großes, modernes israelitisches Reich zu errichten. Für diesen "hohen Gedanken" tat er alles, auch "Niedriges" (212), und zwar mit der unheimlichen Zielstrebigkeit dessen, der weiß, "was es bedeutet, die Macht zu erringen und sie zu behaupten" (88). Außer seinem gewinnenden Wesen waren es militärische Tüchtigkeit, Klugheit, Durchtriebenheit und Skrupellosigkeit, die ihn zum Erfolg führten. Während seiner Zeit als Bandenführer in der Wüste entwickelt er ein System von Beschützertum, Erpressung und Ausbeutung, das dem der heutigen Mafia äußerst ähnlich ist. Seine Raubzüge von philistäischem Gebiet aus hält er den Israeliten dadurch verborgen, daß er grundsätzlich alle Bewohner der überfallenen Dörfer niedermachen läßt. Er ist verantwortlich für ein gutes Dutzend Meuchelmorde an prominenten Zeitgenossen, ohne daß er sich je die Weste beschmutzt hätte; er läßt andere für sich morden und fällt dann das Todesurteil über sie. Die Religion, die Hoffnungen des Volkes, die treue Ergebenheit seiner Anhänger, selbst die sexuelle Leidenschaft, die er allenthalben hervorruft  alles ist ihm nur Vehikel zur Macht. Als er sie endlich errungen hat, fürchtet er, ein anderer möchte es ihm gleichtun. Die spielerische Leichtigkeit, mit der er zuvor alle Hindernisse und Kontrahenten hinweggefegt hat, kommt ihm abhanden; zurück bleibt nur seine Grausamkeit.

Offenbar, um dieses Bild zu gewinnen, das Bild eines Mannes, der nicht, wie Salomo, "ein kleiner Halsabschneider" ist, sondern "ein großer Mörder" (91), der sich als Erwählter Gottes weiß und darüber "zum Despot" (!) wird (217), der den von ihm geschaffenen modernen "Staat, errichtet im Namen des HErrn, in einen Moloch verwandelt, der gespeist wird mit dem Fleisch der Unschuldigen" (157)  um das Bild eines solchen Mannes zeichnen zu können, greift Heym nach den biblischen Berichten über David und gestaltet sie, wo sie sich seiner Absicht nicht fügen, neu. Wer nach der Legitimität dieses Vorgehens fragt, begibt sich auf ein glattes Parkett. Denn Heym genießt die "Freiheit des Dichters", der sich bei der Behandlung eines geschichtlichen Themas ja keineswegs sklavisch an das vorgefundene Textmaterial zu halten braucht. Andererseits aber lehnt sich Heym in Wortlaut und Inhalt über weite Strecken sehr eng an die biblischen Daviderzählungen an und gibt obendrein zu verstehen, daß Abweichungen davon auf den sorgfältigen Recherchen eines Historikers beruhten; so muß er sich die Frage doch gefallen lassen, ob er nicht zuweilen etwas, das in Wahrheit bloße Vermutung ist, seinen Lesern als gesicherte Tatsache offeriert.

Allerdings muß solcher Kritik gleich eine Erklärung hinzugefügt werden: Heyms Hypothesen über den historischen David richten sich nicht nur an die Adresse des heutigen Lesers, sondern betreffen zuerst und ganz unmittelbar die zentrale Figur des Romans, Ethan ben Hoshaja. Das Verhalten und das Schicksal Ethans sind nicht denkbar ohne das Davidbild, das er bei seinen Nachforschungen gewinnt. Heym läßt seinen Helden einmal sagen: "Je mehr ich erfahre über ihn (= David), desto mehr verwächst er mit mir; wie eine Beule am Leib ist er mir, ein böses Geschwür; ich möchte ihn ausbrennen und kann es doch nicht" (125). Wohl nicht zufällig steht dieser Satz ziemlich genau in der Mitte des Buches. Heym geht es demnach mindestens so sehr wie um historische Thesen um die Frage: Wie wird sich der Schriftsteller Ethan verhalten, der in dem totalitären Staat Salomos und unter den Augen der Mächtigen die ruhmreiche Geschichte des Staatsgründers schreiben soll, der aber nicht anders kann, als die Wahrheit zu suchen, und dabei auf einen David stößt, wie er vorhin beschrieben wurde: gewiß ein Großer der Menschheit, aber eben ein "großer Mörder"?

Gegen Ende seines Berichts kennzeichnet sich Ethan als einen, der "gefangen" ist in seiner Zeit "und außerstande, ihre Begrenzungen zu durchbrechen". Und er fährt fort: "Der Mensch ist wie ein Stein in der Schleuder, und wird geworfen auf Ziele, die er nicht kennt. Was kann er mehr tun denn versuchen, daß seine Gedanken ihn um ein weniges überdauern, als Zeichen, als undeutliches, den kommenden Geschlechtern" (249). Die Selbstcharakterisierung trifft voll zu: Ethan ist weise, gerecht, wahrheitsliebend, scharfsinnig, schlau und verschlagen  aber eines ist er nicht: radikal. Er kann es wohl auch gar nicht sein, so wie die Verhältnisse sind und wie er selbst ist. Ethan meidet alles Extreme, er ist in allem maßvoll. Er strebt nicht nach Reichtum, aber auf einen gewissen Wohlstand legt er doch großen Wert. Er benötigt keinen regelrechten Harem, aber drei Frauen braucht er denn doch: eine für die Seele, eine für die Fortpflanzung und eine für die Libido. Er ist kein religiöser Eiferer, aber in einer recht konventionellen Weise ist er doch fromm. Aurea mediocritas. Dieser Ethan ist nicht der Mann, der seine Haut der Wahrheit zuliebe leichtfertig zu Markte trüge. Aber er ist auch nicht der Mann, der untätig zusähe, wenn die Wahrheit völlig unterschlagen werden soll. Einerseits schmeichelt er Salomo und dessen Höflingen mit honigsüßen Worten, versichert er den Kommissionsmitgliedern wiederholt, daß er keineswegs Zweifel an der Einzigartigkeit Davids zu wecken wünsche, entschärft er wirklich von sich aus eine Reihe von anstößigen Tatsachen. Andererseits riskiert er, wenn ihm der Augenblick günstig erscheint, manch offene Frage an die mächtigen Herren bei Hofe, betont er vor der Kommission, daß er die Geschichte wohl ein wenig "zurechtstutzen" und "verschönern", keinesfalls aber von Grund auf "verändern" könne (52), erreicht er wirklich, daß eine beträchtliche Anzahl unbequemer Nachrichten in den offiziellen Text gelangt. Die vom Kanzler Josaphat ausgegebene Devise, daß die Kommission "einen glücklichen Mittelweg" suchen müsse "zwischen dem, was ist, und dem, was die Menschen glauben sollen" (46), findet ihr getreues Echo in Ethans Rat, man solle Unangenehmes mit "Diskretion" berichten, Diskretion aber sei "Wahrheit gezügelt durch Weisheit" (89f). Trotz aller Wendigkeit und Vorsicht jedoch erleidet Ethan bei seinem Versuch, zwischen Scylla und Charybdis hindurchzukommen, Schiffbruch. Er verläßt Jerusalem als ein geschlagener Mann.

V  Ideologiekritik

Die in den großen Tages- und Wochenzeitungen der Bundesrepublik erschienenen Rezensionen zum König-David-Bericht konzentrieren sich fast alle auf das eben angezeigte Problem: den Konflikt des Schriftstellers zwischen Wahrheitsdrang und Staatsräson. Mit Vorliebe lauscht man Heyms Buch einen autobiographischen Ton ab und entdeckt engste Parallelen zwischen Ethans David und Stalin. Das hat natürlich sein Recht. Es bedarf keines sonderlichen Scharfblicks, um hinter der Gestalt Ethans die Züge bestimmter Schriftsteller etwa in der Sowjetunion und der DDR zu erkennen, die, wie Heym, literarisch oder auch physisch in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind. Auch der Hinweis darauf, daß die Mitglieder der salomonischen Kommission mit der Geschichte Davids ähnliche Schwierigkeiten haben wie die Historiker in den östlichen Staaten mit derjenigen Stalins, ist wohlfeil. Doch Überschriften wie "Von David bis Stalin" [2] oder, noch deutlicher, "König David alias Stalin" [3] wecken denn doch Bedenken. Einerseits lassen sich Parallelen zwischen David  jedenfalls, wie Ethan ihn sieht  und vielen anderen Tyrannen ziehen, andererseits paßt vieles von dem, was Heym über David schreibt, nicht oder nur sehr schlecht auf Stalin. Man kann den "König David Bericht" als Parabel auch, vielleicht sogar vorwiegend für die Situation des wahrheitssuchenden Schriftstellers in den vorfindlichen sozialistischen Staaten verstehen  aber eben keinesfalls als penible Allegorie.

Heym selbst sagt von seinem jüngsten Werk, es sei alles drei in einem: ein historischer, ein biblischer und ein aktuell politischer Roman. [4] Wenn in manchen Rezensionen ein starkes Übergewicht auf die letzte dieser Definitionen gelegt wird und dies noch in einer unverkennbar einseitigen Weise, so scheint dabei neben einer gewissen Sensationslust ein mehr oder minder lauter motivierter Antikommunismus mitzuspielen, der ein Buch wie den König-David-Bericht zum Anlaß vor allem dafür nimmt, den Schmutz vor der Tür des andern zu kehren. Sicher, Heym versucht, vor derselben Tür zu kehren  aber er wohnt in diesem Haus, und zwar, wie es scheint, nicht durchaus ungern; denn er betrachtet sich, bei aller Kritik an totalitären Erscheinungen, die der Kommunismus hervorgebracht hat und noch hervorbringt, als einen überzeugten Kommunisten. Gerade auch sein Roman über David zeigt, daß dies kein hohler Anspruch ist: Obwohl das Buch wesentlich von der Typisierung, von der Schilderung markanter Charaktere, lebt und daraus ein gut Teil seiner Frische und Brillanz bezieht, vergißt Heym doch nicht, die von ihm herausgehobenen Individuen auch wieder hineinzuzeichnen in eine Umwelt, durch die sie geprägt sind und die von ihnen geprägt wird. Daß er dies tut, und mehr noch, wie er es tut, verrät seinen marxistischen Denkansatz. An dieser Stelle liegt zweifellos ein Proprium des König-David-Berichts; und die Behauptung sei gewagt, daß es für den, der sich ernsthaft mit dem Alten Testament befaßt, darüber mehr nachzudenken lohnt als über einzelne kühne Textmanipulationen oder antistalinistische Seitenhiebe. Der Roman des Marxisten Heym stellt nämlich vor die Frage, ob nicht die bei uns übliche alttestamentliche Exegese, ungeachtet ihres feinen Instrumentariums und des mehr oder weniger perfekten Umgangs damit, in der Gefahr steht, bestimmte, dem Ideologieverdacht unterliegende Wertvorstellungen in die Bibeltexte einzutragen oder sie sich von ihnen bestätigen zu lassen.

Weit ausführlicher als in der biblischen Darstellung der frühen Königszeit, ausführlicher auch als in den meisten exegetischen Untersuchungen darüber, erhält in Heyms Buch eine wahrlich nicht unbedeutende, über den Taten Davids und Salomos aber fast in Vergessenheit geratene Gruppe von Menschen das Wort: das breite Volk. Was taten die einfachen Israeliten, während sich die Großen mit so exklusiven Dingen beschäftigten wie Kriegführung, internationalen Handelsvereinbarungen, Hofintrigen, Haremserweiterung, Tempelbauplänen und Geschichtsschreibung? Heym vermeidet es, diese Frage nach einem allzu simplen Klassenkampfschema zu beantworten. Zunächst wollte, genauer: "brauchte das Volk einen König" (19). Nicht in erster Linie, wie die neuere alttestamentliche Wissenschaft fast einmütig annimmt, wegen der Existenzbedrohung durch die Philister, sondern weil im ökonomischen Bereich tiefgreifende Veränderungen stattgefunden hatten: Alle Israeliten waren jetzt fest ansäßig, jede Familie besaß ein Stück Land, an die Stelle des unmittelbaren Warentausches trat mit der fortschreitenden Arbeitsteilung das Geld als Mittler beim Austausch der Waren; "diese neue Zeit mit ihrer neuen Wirrnis" verlangte "eine neue Macht" (18). Das nationale Bauernkönigtum Sauls wurde indes bald verdrängt durch das modernere, straffer geführte, nach innen besser organisierte, nach außen militantere Königtum Davids. Das Konzept war erfolgreich, Israel wurde zu einem Großstaat. Im Volk aber begann es zu gären: Davids "Kriege waren teuer, seine Verwaltung zehrte am Vermögen des Volkes; bald sehnten die Kinder Israels die Tage Sauls zurück, da der König noch hinter dem Pflug einherging und der Bauer den Großteil seines Ertrags für sich behielt"; "die Enttäuschten und Unzufriedenen, die Notleidenden und Verarmten" setzten ihre Hoffnungen auf die Nachkommen Sauls (157). Doch David kam ihnen mit der Ermordung der Sauliden zuvor. Nicht lange freilich, und der soziale Schwelbrand verwandelte sich in ein gewaltiges Flächenfeuer. Die Revolte Absaloms stützte sich auf die "großen Landbesitzer", die eine weitere Ausbreitung der königlichen Domänen fürchteten, und auf die Priesterschaft im Lande, die angesichts des geplanten Haupttempels "um ihre Einkünfte bangte", aber auch und vor allem auf "die Riesenmenge der Bauern, Handwerker, Lastträger, Händler, Treiber und so fort, die den Steuereinnehmer im Nacken hatten und deren Schulden anschwollen, bis sie gezwungen waren, sich selbst in die Leibeigenschaft zu verkaufen" (213). Doch David wurde auch mit dieser übermächtigen Koalition von Gegnern fertig. Von da an lag lähmende Apathie auf dem Volk. Hier und da noch aufflackernden Unmut erstickt die schon unter dem alternden David, erst recht unter Salomo allmächtig gewordene Geheimpolizei. Ethan hört, daß ein zerlumpter Kruppel, der Benaja und Salomo als "Schurken und Hurensohne" beschimpft hat, abgeführt wurde (188); er sieht die Fortschritte beim Tempelbau, aber er sieht "auch die zerschundenen Rücken der Menschen ... und ihre ausgemergelten Gesichter und gequälten Augen" (260); er erfährt, daß sich der Oberpriester durch Verkauf von Opferfleisch und der Kanzler Josaphat durch unbezahlte Zwangsarbeit bereichert (181); er beobachtet, wie Land und Leute in Armut versinken, während in Jerusalem und ein paar militärischen Zentren monumentale Bauten aus dem Boden gestampft werden (100.198). All das weiß Ethan  und doch ergreift er nicht Partei. Er will auch politisch in der Mitte stehen  und wird zwischen den Mühlsteinen zerrieben. Von Salomo eben verurteilt und davongejagt, vor sich die verwahrloste Plebs von Jerusalem, die ihren Zorn an dem einstigen Günstling des Königs auslassen möchte, bekommt er ausgerechnet von einem Torhauptmann, einer Art Benaja im Taschenformat, die volle Wahrheit zu hören: "Weder gehörst du zum Volk, noch bist du GOttes. Du zählst nicht zu den Herrschenden, und bei den Beherrschten findet man dich auch nicht" (261).

Die Unterscheidung zwischen "GOtt" und "Volk", die jener Hauptmann trifft, läßt aufhorchen. Ist damit gemeint, daß Gott auf der Seite der Herrschenden steht und daß die Beherrschten, wenn sie mit ihrer Lage unzufrieden sind, gegen Gottes Willen verstoßen? In der Tat, dies ist die Funktion, die nach Heyms Ansicht der Religion zufällt: sie dient als Stabilisator der bestehenden Machtverhältnisse. Die These ist nicht neu, aber die Hartnäckigkeit, fast Penetranz, mit der sie im "König David Bericht"  exemplarisch für alle späteren sich religiös verbrämenden Herrschaftsformen  an der frühen israelitischen Königszeit verifiziert wird, verleiht ihr eine neue, bedrängende Aktualität. Nur am Rande sei vermerkt, daß Heyms Angriff auf die Religion als Machtinstrument zuallerletzt die heutigen sozialistischen Staaten des Ostens trifft.

Wir haben es hier freilich nicht mit einer vulgär-marxistischen Polemik gegen die Religion oder auch gegen den alttestamentlichen Gottesglauben im ganzen zu tun. Vielmehr scheint Heym der Theorie anzuhängen, im Israel der Königszeit sei der alte Jahweglaube (15) unter dem Einfluß kanaanäischer Kulte (32) und Lebensgewohnheiten (18) zu einer Religion depraviert, die sich von machtbewußten Menschen schließlich manipulieren ließ wie andere Religionen auch. Samuel stemmte sich dem Strom der Zeit noch entgegen, jedoch vergeblich (16ff); vollends der unaufhaltsame Aufstieg Davids, den Samuel tragischerweise mit in die Wege geleitet hatte (36.40.59.103), ließ das Unheil unausweichlich werden. David wußte sich als der Erwählte Jahwes, und er verstand das fast allen zu suggerieren, mit denen er in Berührung kam. Bald ließ sich alles, was David tat  Ehebruch und Mord eingeschlossen  damit legitimieren, daß es den hohen Plänen Jahwes mit seinem Erwählten entsprach (z.B. 87.103.165). So kann Benaja in der ihm eigenen brutalen Offenheit sagen: "David wußte, was es bedeutete, die Macht zu erringen und sie zu behaupten. Und wenn dabei das Wort des HErrn nicht übereinstimmen wollte mit dem, was David für notwendig hielt, dann wandte sich David an den HErrn und sprach mit ihm, und danach paßte GOtt sein Wort den Notwendigkeiten an" (88). Von Michal hört Ethan einmal, ihr Bruder Jonathan habe ihr im Blick auf David gesagt: "Um zu herrschen, darfst du nur ein Ziel sehen  die Macht. Darfst du nur einen Menschen lieben  dich selbst. Sogar dein Gott muß ausschließlich dein Gott sein, der ein jedes deiner Verbrechen rechtfertigt und es mit seinem heiligen Namen deckt" (72). Daß Salomo die Religion genauso handhabte wie sein Vater, nur ohne dessen großartige Souveränität, braucht wohl nicht eigens betont zu werden.

Angesichts der harten Differenz zwischen dieser Darstellung Heyms und dem Bild, das die Bibel im ganzen (man denke etwa an die "Psalmen Davids", an die "Sprüche Salomos" und an den neutestamentlichen Hoheitsnamen "Davidssohn") von den Königen David und Salomo zeichnet, mag mancher eine gewisse Neigung zur Apologetik verspüren. Doch liefe er dabei Gefahr, sich das Distichon auf den Leib zu schneiden, das der DDR-Dramatiker Peter Hacks nach der Lektüre des "König David Berichts" seinem Freund Stefan Heym sandte: "David schlug Goliath, äußerst ungern sahns die Philister. Stefan schlug David, und nun sehen sies wieder nicht gern."

VI  Rückfragen

Es muß indes nicht jeder ein Philister sein, der gegen Heyms Roman einige Bedenken hat. Beginnen wir mit scheinbar äußerlichen Dingen: Wie eingangs bemerkt, spricht Ethan ein stilechtes, bisweilen freilich ironisch karikiertes Lutherdeutsch. Es darf aber nicht Luther, sondern muß der Unwissenheit Heyms angerechnet werden, wenn bei den Wörtem "Gott" und "Herr" durchweg die beiden ersten Buchstaben groß geschrieben werden; in der Lutherbibel hingegen wird auf diese Weise bekanntlich nur ein ursprüngliches "Jahwe" angezeigt. Die Adjektivbildung "philistinisch" (5) beleidigt das Ohr jedes halbwegs Sachkundigen. Was soll man ferner davon halten, wenn Salomos Kanzler aus der 500 Jahre jüngeren Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift zitiert (52), oder wenn Ethan wiederholt von einem Buch spricht, das Samuel geschrieben haben soll (16.17.43)? Befremdlicher noch ist es, daß die in der Bibel David zugewiesenen Psalmen grundsätzlich als wirklich von David stammend aufgefaßt werden (18.160f.221)  allerdings mit der Maßgabe, daß "vieles in Davids Dichtung Scheinheiligkeit" sei (211); oder daß die Proverbien und das Hohelied tatsächlich Salomo zum Verfasser haben sollen  allerdings nur insofern, als dieser sich als Plagiator großen Stils betätigte (15ff.262 bzw. 186). Wird hier nicht Sachkenntnis durch Vorurteile ersetzt? Freilich wird man Heym zubilligen müssen, daß es seine Aufgabe als Schriftsteller nicht unbedingt ist, seine Leser mit den Ergebnissen der historisch-kritischen Forschung vertraut zu machen; selbst wenn er diese gekannt haben sollte  und manches aus der wissenschaftlichen Literatur scheint er sich tatsächlich angeeignet zu haben , kann es seine Absicht gewesen sein, das gängige, von kritischen Fragestellungen weithin noch unberührte Bibelverständnis zu treffen. Wäre es so, dann bliebe immerhin festzustellen, daß ihm an Destruktion viel, an sachgerechter Information aber wenig gelegen ist.

Diese Destruktion dürfte den exegetisch nicht versierten Leser um so mehr beeindrucken, als Heym seinem Ethan die Berichte über David fast ausschließlich durch mehr oder weniger unmittelbare Augenzeugen und durch direkte schriftliche Zeugnisse zukommen läßt. Aufgrund dessen kann er stets die Alternative in den Vordergrund rücken, ob die jeweilige Nachricht der historischen Wirklichkeit entspricht oder ob sie der Verschleierung der Wahrheit dient. Das ist deutlich eine moderne Fragestellung. Gewiß hat sie ihr Recht, aber wo ihr die absolute Priorität eingeräumt wird, droht sie einige andere, für eine sachgemäße Textinterpretation mindestens ebenso wichtige Gesichtspunkte auszublenden. So ist bei Heym mit keinem Wort von der wohl unbestreitbaren Tatsache die Rede, daß es über die Thronnachfolge Davids ein umfassendes, unter bestimmten Leitmotiven einheitlich konzipiertes Literaturwerk gibt, das als ganzes in die biblische Darstellung der frühen Königszeit aufgenommen wurde. Die Erzählungen über Davids Aufstieg eignen sich, obwohl nachträglich ebenfalls zu einem größeren Zusammenhang verknüpft, weit eher für Heyms atomisierendes Verfahren. Doch gerade sie unterliegen in starkem Maße den Gesetzen der mündlichen Überlieferungsbildung, deren wichtigstes sicher nicht das der getreulichen Widerspiegelung oder der Verdrehung historischer Fakten ist.

Die Geschichte Davids, wie sie in der Bibel berichtet wird, sperrt sich vielfach gegen das grobe Raster, das Heym ihr aufzwingt  und zwar vor allem da, wo sie Heyms Absicht von sich aus am weitesten entgegenkommt. Lassen sich nämlich schon die zahlreichen königskritischen Züge in den Davidsgeschichten mit der Annahme eines einzigen Wahrheitssuchers in einer durch und durch verlogenen Umgebung nur dürftig erklären, so gilt das noch viel mehr etwa von den scharfen Attacken eines Hosea auf das Königtum oder von der deutlich antimonarchischen Tendenz der deuteronomistischen Geschichtsschreibung, um nur diese beiden Beispiele zu erwähnen. Die Urheber und Tradenten solcher Polemiken sind offensichtlich nicht so sehr dem Ideal historischer Wahrhaftigkeit verpflichtet als vielmehr dem Glauben an den Herrschaftsanspruch Jahwes auch im politischen Bereich. Analoges ist von der Kritik an den sozialen Verhältnissen im Israel der Königszeit zu sagen, die sich im Alten Testament ebenso häufig und unmißverständlich artikuliert. Heym dagegen, so sahen wir, betrachtet die Religion Israels als vom Zeitpunkt der Machtergreifung Davids an korrumpiert und dem Zugriff der Herrschenden haltlos ausgeliefert. Mit diesen Überlegungen soll nicht entkräftet werden, was vorhin als ein Positivum des Heymschen Buches bezeichnet wurde: daß es zum Nachdenken darüber anrege, ob nicht der biblische und erst recht der christliche Gottesglaube gegenüber der Versuchung und dem Zwang der Macht allzu anfällig gewesen sei. Freilich muß jetzt  und wäre es nur um der historischen Wahrhaftigkeit willen  betont werden: Der Glaube ist dieser Versuchung und diesem Zwang nicht immer erlegen. Das Alte Testament, gerade auch die Erzählungen über David, spiegeln beides wider: Anpassung und Widerstand. Fast möchte man es betrüblich nennen, daß Heym nur die eine Seite angreift, ohne den Verbündeten auf der anderen Seite zu sehen.

Derlei Klagen jedoch wären wohl deplaciert. Stefan Heym hat König David schon geschlagen, daran ist nichts mehr zu ändern. Es könnte allerdings sein, daß er weder den historischen noch den biblischen David getroffen hat, sondern einen dritten, sagen wir: Ethans David. Natürlich ist dieser David den beiden anderen in vielen Zügen zum Verwechseln ähnlich, in manchem aber ist er von ihnen grundverschieden. Doch vielleicht mußte er erfunden werden, damit der "König David Bericht" das werden konnte, was er ist: der biblisch-historisch-politische Roman eines kritischen Marxisten, ein Ärgernis in vielem, vor allem für die Philister aller Schattierungen, und ein Denkanstoß für jeden, der nach dem Verhältnis von biblischer Botschaft und gesellschaftlichen Verhältnissen, von Glaube und Politik fragt.



[1]     Ich halte mich im folgenden an die deutsche Erstausgabe des Romans im Kindler-Verlag 1972. Inzwischen ist er auch als Taschenbuch erschienen (Fischer Taschenbuch 1508, 1974).

[2]     Der Stern, 51/1972.

[3]     Die Zeit, 33/1972.

[4]     Frankfurter Rundschau, 28.10.1972.